Aktuelle Rezensionen
Heinz Duchhardt
1648. Das Jahr der Schlagzeilen. Europa zwischen Krise und Aufbruch. Der Westfälische Friede im Fokus der Nachwelt
Wien/Köln/Weimar 2015, Böhlau, 215 SeitenRezensiert von Gerhard Immler
Erschienen am 24.11.2017
Dem Autor geht es, wie er im ersten Kapitel erläutert, nicht um den untauglichen Versuch, das Jahr der Friedensverträge von Münster und Osnabrück zur großen, gesamteuropäischen Epochenwende hochzustilisieren; es geht vielmehr darum, darzulegen, von welchen Ereignissen ein gut informierter Beobachter der europäischen politischen Szenerie in diesem einen Jahr Kenntnis erlangt hätte – wobei eine solche Figur, wie Duchhardt aufgrund des schon breit entwickelten Zeitungswesens sowie des in den gebildeten Schichten vertrauten Europa-Begriffs auseinandersetzt, keineswegs fiktiv ist. Dieser Erzählperspektive getreu wird anschließend darauf verwiesen, dass 1648 kein Jahr außergewöhnlicher Wetteranomalien war und, anders als zum Beispiel der Komet von 1618, auch keine beunruhigenden Himmelserscheinungen die Druckerpressen in Bewegung setzten. Dass viele der von den Zeitgenossen wahrgenommenen Krisenphänomene heute auch durch die säkulare Klimaverschlechterung der »Kleinen Eiszeit« erklärbar sind, gerät dabei aber keineswegs aus dem Blick.
Was die politische Szenerie anbelangt, so werden in einem Ansatz, der ganz Europa in einem geographischen Rundgang von Land zu Land ins Blickfeld nimmt, eine Vielzahl von Ereignissen abgehandelt, die mehr oder weniger zufällig ins Jahr 1648 fielen und oft nicht oder nur auf den zweiten Blick mit dem Friedensschluss in Westfalen zusammenhingen. So konnte etwa das neue, aus der Revolution von 1640 hervorgegangene Königtum der Dynastie Bragança in Portugal gerade in diesem Jahr erste wichtige Erfolge bei der Zurückdrängung niederländischer Einbrüche ins portugiesische Kolonialreich in Brasilien und Westafrika verbuchen; aber die Freude darüber wurde für Hof und Handelsherren in Lissabon stark getrübt durch den Friedensschluss zwischen dem an seinem Herrschaftsanspruch über den iberischen Nachbarn festhaltenden Spanien und dem maritim-kommerziellen Gegner und Konkurrenten im Norden – bekamen dadurch doch beide Mächte Kräfte frei für die Kriegführung gegen den völkerrechtlich weiterhin in einer prekären Situation befindlichen Usurpator am Tejo. Für die in eine Vielzahl von äußeren und inneren Problemen und Konflikten verwickelte spanische Monarchie bedeutete der Separatfrieden mit den Niederlanden, so sehr er mit dem Ende des achtzigjährigen Unabhängigkeitskrieges der einstigen abtrünnigen Provinzen auch einen Einschnitt markiert, letztlich nicht mehr als eine Frontbegradigung angesichts der seit 1640 akut wahrgenommenen Symptome der Dekadenz der spanischen Macht. Die entscheidende Epochenwende brachte dann freilich aus der Sicht Madrids erst der Pyrenäenfriede von 1659 mit dem endgültigen Verlust der hegemonialen Stellung in Europa an Frankreich. Für dieses Königreich bedeutete 1648 deshalb auch nur einen Teilerfolg, der noch dazu innenpolitisch durch den Ausbruch der Fronde konterkariert wurde. Auf den britischen Inseln neigte sich der Bürgerkrieg 1648 dem Ende zu – im August erzielte Cromwell bei Preston einen Sieg, der die letzte Chance einer Wendung zugunsten Karls I. zunichte machte –, aber die Spannungen zwischen den Teilreichen und den Konfessionen blieben so scharf, dass als Beschreibung der Situation nur der lapidare Satz dasteht: »Westfalen und die britischen Inseln blieben letztlich zwei getrennte Welten.« (S. 66). Ganz anders die Situation in den Niederlanden: Hier galt von Anfang an und gilt noch heute 1648 als ein Höhepunkt in der nationalen Geschichte, der trotz der erwähnten Rückschläge gegen Portugal eine Phase der kulturellen und wirtschaftlichen Hochblüte einleitete; dass im selben Jahr die Aktien der Ostindischen Kompanie ihren Höchstkurs erreichten, war nicht ganz zufällig. Für Dänemark war das Jahr 1648 nur insofern bedeutsam, als während desselben König Christian IV. starb, ein politisch auf ganzer Linie gescheiterter Monarch, der es durch geschickte Selbstdarstellung aber dennoch schaffte, um seine Person einen nationalen Mythos als tapferer Kämpfer gegen eine Welt von Feinden zu begründen. Schweden gehörte 1648 eindeutig zu den Siegern, aber von Jubel war, anders als in den Niederlanden, wenig zu vernehmen; zu sehr trübten die schweren finanziellen und demographischen Belastungen des langen Krieges und die Unsicherheiten über die Fortdauer der Dynastie und damit der politischen Stabilität die Freude über den Frieden und die Etablierung als europäische Großmacht. Polen-Litauen gehörte zu den Staaten, die an den Westfälischen Verhandlungen nur sporadisch – durch eine Art Beobachtermission – teilgenommen hatten und von den Entscheidungen nur indirekt betroffen waren, aber auch dort starb 1648 ein König. Die Wahl eines schwachen Nachfolgers und der Kosakenaufstand in der Ukraine läuteten die existenzgefährdende Krise ein, von der die gekrönte Adelsrepublik im folgenden Jahrzehnt betroffen sein sollte. Aufstände, wenn auch lokal begrenzten Ausmaßes, hatte auch der Staat der Moskauer Zaren 1648 zu bewältigen; dort wurden sie allerdings alsbald zum Anstoß für Reformen, die die Macht des Herrschers befestigten. Auch in Südosteuropa gab es 1648 zwei Regierungswechsel. Während jedoch in der Wahlmonarchie Siebenbürgen die Thronfolge vom Fürsten Georg I. Rákoczi auf seinen gleichnamigen Sohn eine Konsolidierung dieses Pufferstaats zwischen den Ländern der Habsburger und dem Osmanischen Reich anzeigt, war im letzteren die Palastrevolution, bei der im August Sultan Ibrahim I. ermordet und ein minderjähriges Kind zum Nachfolger eingesetzt wurde, ein Symptom des einsetzenden Niedergangs des überdehnten Imperiums.
In Italien war Venedig, das den Ruhm für sich in Anspruch nehmen konnte, den kaiserlich-französischen Frieden vermittelt zu haben, voll vom Krieg der Türken gegen seinen östlichen Außenposten Kreta in Anspruch genommen. Stärker noch war andernorts in Italien die Stimmung »eher auf Moll gestimmt« (S. 143): in Genua, für das diese Metapher gebraucht wird, wegen einer schleichenden Entfremdung vom traditionellen Verbündeten Spanien, was die von Frankreich und Savoyen ausgehende Bedrohung der Republik wachsen ließ, aber auch in Rom, wo bekanntlich der Westfälische Friede das für das Selbstverständnis des Papstes und der Kurie unlösbare Dilemma aufwarf, dass man die als ethische Pflicht empfundene Rolle des Friedensvermittlers offiziell verleugnen musste, da der Friede Bestimmungen enthielt, die Kirchengut den Protestanten überantworteten. Noch weit schwer wogen die Probleme in Süditalien, wo zwischen Mai 1647 und Juli 1648 Volksaufstände die spanische Herrschaft in eine schwere Krise stürzten, die zwar letztlich gemeistert werden konnte, aber um den Preis einer Lockerung des Steuerdrucks, was wiederum den Gesamtetat der Monarchie belastete. Einen Lichtblick bedeutete für die Regierung in Madrid demgegenüber das Herzogtum Mailand, das freilich wegen seiner Wirtschaftskraft und Verfassung sowie aus Rücksicht auf den kaiserlichen Oberlehensherrn viel besser behandelt wurde; hier gab es Erfolge gegen den Herzog von Modena, der sich mit Frankreich verbündet hatte, aber Niederlagen erlitt und kurz nach der Jahreswende 1648/49 klein beigeben musste. Eine Stabilisierung der Verhältnisse brachte das Jahr 1648 auch im benachbarten Savoyen, indem mit Eintritt der Volljährigkeit des Herzogs Karl Emanuel II. die konfliktreiche Zeit der Regentschaftsregierung (ab 1637) endete. Für die im Kriege neutrale Schweiz brachte der Westfälische Friede die internationale Anerkennung ihrer Unabhängigkeit vom Reich, auch wenn eigentlich – aus unbedeutendem Anlass und eher beiläufig – die Verträge nur die Exemtion vom Reichskammergericht festsetzen und erst im Nachhinein dies von den Kantonen wie von der Staatenwelt als Souverän-Erklärung der Eidgenossenschaft interpretiert wurde.
Dass im Heiligen Römischen Reich nach Unterzeichnung des Friedens fast durchgängig Erleichterung über das Ende des langen zerstörerischen Krieges und – bei Protestanten etwas mehr als bei Katholiken – Freude über den endlich wiedergefundenen Frieden herrschte, ist durch zahllose Selbstzeugnisse aus der Bevölkerung und vielfältige Produkte der bildenden Kunst dokumentiert. Zwei Grundbedingungen der Zukunft Deutschlands wurden durch die Friedensverträge zementiert: die föderale Struktur, bei der der Schwerpunkt des politischen Lebens und vor allem des Modernisierungspotentials in den Territorialstaaten lag, und das rechtlich eingehegte, zwar nicht immer ganz konfliktfreie, so doch als Auslöser politischer Spannungen ins zweite Glied tretende Nebeneinander der Konfessionen.
Am Schluss untersucht Duchhardt, die Eingangsüberlegungen wieder aufgreifend, wie zwei exemplarisch ausgewählte Zeitungen, die französische Gazette und die Leipziger Wöchentliche Zeitung über alle diese und weitere Ereignisse berichteten und kommt zu dem Ergebnis, dass die Redaktionen ihre Leser in erstaunlich umfangreicher Weise über alle wichtigen Vorkommnisse in Europa und vereinzelt sogar darüber hinaus informierten. Darin sieht der Autor seine These von Europa als einer »kommunikativen Einheit« bewiesen, während er älteren Theorien von der »Krise des 17. Jahrhunderts« oder gar der »Krise der 1640er Jahre« eher eine Absage erteilt, da selbst die auffällige Häufung von Bürgerkriegen, Aufständen und Revolten in diesem Jahrzehnt aufgrund höchst unterschiedlicher Motive und Konstellationen der beteiligten Parteien nicht auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen sei.